Zwangsstörung: Ursachen = Kindheit – das ist der Dreiklang, der bei der Erörterung einer Zwangserkrankung oft zu hören ist. Ohne ein Freund der Psychoanalyse zu sein, kann man in der Biographie vieler Menschen mit der Diagnose Zwangsstörung übereinstimmend feststellen:
- Es gab eine Zeit, in der unvorhersehbar der Verlust einer zentralen Ordnung zu verkraften war.
und / oder: - Es fehlt(e) an lebensnotwendigen Sicherheiten und Ordnungen.
Diese beiden Gegebenheiten können zu einer erhöhten Vulnerabilität führen.
Mit Vulnerabilität (lat. vulnus, die Wunde) wird die Anfälligkeit für Verletzungen beschrieben. Zwar kann sich in einem nicht ausreichend geschützten oder von Gewalt geprägten Umfeld eine erhöhte Verletzbarkeit gegenüber Belastungen entwickeln, aber: Es gibt auch viele Lebensgeschichten, in denen am „wunden Punkt“ zwar eine hohe Sensibilität besteht, die sprichwörtlich dünne Haut – die aber für das Leben in besonderer Weise genutzt werden kann. Dies erklärt, warum in der Beratungszunft nicht wenige Personen arbeiten, die eigene Verlust- und Grenzübertretungserfahrungen zu verkraften hatten.
Verlusterfahrungen bzw. Entbehrungen auf existenzieller Ebene
Zu den biographischen Parallelen unterschiedlicher Verläufe bei sogenannten Zwangserkrankungen können unter anderem zählen:
- der Verlust bzw. das Fehlen zentraler Lebensordnungen hinsichtlich Sicherheit, Vertrauen, Zuversicht
- Erlebnisse emotionalen und / oder körperlichen Missbrauchs
- Erfahrungen von dauerhafter Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit
- Vermeidungsverhalten, um z. B. den Rest an Stabilität eines belastenden Familiengeflechts zu erhalten
- wiederholte Abwertungen, wenn eigene Anliegen und Gefühle offenbart wurden
- zurückgehaltener emotionaler Ausdruck, z. B. „Ich kann / darf nicht weinen»
- massive Loyalitätskonflikte, u. a. im Zusammenhang mit Parentifizierungen in der Ursprungsfamilie (Double-Binds)
Wie kann man mit den Phänomenen Zwangsgedanken / Zwangshandlungen umgehen?
- In einem ersten Schritt werden die erlebten Defizite in Anliegen übersetzt.
- Sobald Anliegen formuliert und auch spürbar sind (z.B. „Ich sehne mich nach Klarheit»), kann für die Anliegen gearbeitet werden.
- Täglich, mit Wertschätzung und Geduld.
Liegen für Zwangsstörungen die Ursachen wirklich in der Kindheit?
Es gibt eine Reihe von Untersuchungen, die für das Auftreten einer Zwangsstörung die Ursachen in der Kindheit oder der Adoleszenz sehen.
Zitat aus „Psychischer Zwang – ein pathologisches Phänomen: Ätiologieforschung und Erklärungsmodelle“ von Ortrud Neuhof, S. 16, – mit Anmerkungen:
- „Wie Reinecker zu entnehmen ist, weist eine weitere Beobachtung auf einen Zusammenhang mit kritischen Lebensereignissen in 30 % der Fälle hin, einen Zusammenhang, der auch bei anderen psychischen Störungen nachweisbar ist.“
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- Hierzu ist festzustellen: Kritische Lebensereignisse sind in der Regel mit dem Verlust einer Ordnung verbunden, wie sie etwa bestand in Form von „Die Eltern sind da“ oder „Hier wohne ich, hier bin ich sicher.“
Fallen solche Ordnungen weg, treten ersatzweise neue Ordnungen an deren Stelle – entweder von außen gegeben oder von innen heraus. Man braucht hier keine Zusatznomenklatur zu entwickeln, etwa „Übersprungsordnungen“. Es reicht das Wissen darum, dass ein Leben ohne Grundordnung und -orientierung / Identität schwer erträglich ist.
Hiermit ist die Theorie aufgestellt, dass beim Wegfallen bzw. dem Fehlen elementarer Ordnungen unwillkürlich und unmerklich durch das Gehirn – Ersatzordnungen geschaffen werden, für die das Individuum eintreten und vieles leisten kann.
Derartige Ersatzordnungen haben fast immer keinen rational begründbaren Nutzen; auf der Ebene der gefühlten Selbstwirksamkeit des Individuums jedoch entfalten sie eine hohe Funktionalität, wenngleich sie statt in die erstrebe Selbstwirksamkeit in ein Ohnmachtserleben (man fühlt sich von Zwängen bestimmt) führen.Dieses Dilemma wird in der Psychiatrie übersehen; in den Vordergrund tritt ein Krankheitskonzept, in das die Betroffenen einsortiert werden – meistens mit dem Ziel, „endlich einsichtig zu werden“ und gegen ihr eigenes, in einer Krisensituation als lebenserhaltend wirkendes Substitutions-Ordnungssystem anzukämpfen.
Da dieses Ankämpfen schon aus hirnphysiologischen Gründen erfolglos bleiben muss, wirkt der herkömmliche psychopathologisch-psychiatrische Ansatz wie der abschließende Beweis dafür, dass diese Menschen (die sogenannten Zwangserkrankten) ein fehlerhaftes, ja sogar uneinsichtiges Verhalten an den Tag legen. Dies wird von den Betroffenen als massive Abwertung und Entmutigung erlebt.]
- Hierzu ist festzustellen: Kritische Lebensereignisse sind in der Regel mit dem Verlust einer Ordnung verbunden, wie sie etwa bestand in Form von „Die Eltern sind da“ oder „Hier wohne ich, hier bin ich sicher.“
- Zitat: „Oftmals passen diese Lebensereignisse zu der Persönlichkeit des Zwangsgestörten wie ein Schlüssel zum Schloss.»
- Kritische Anmerkung: Dennoch wird immer noch davon ausgegangen, die individuelle Reaktion auf ein kritisches Lebensereignis wäre automatisch eine schlechte Reaktion; tatsächlich kann sie lediglich als „die einzige zum Zeitpunkt des kritischen Lebensereignisses zur Verfügung gestanden habende Reaktion“ beschrieben werden. Alles andere ist eine Anmaßung auf Kosten der betroffenen Personen.“
- „Rachmann/Hodgson setzen die Wahrscheinlichkeit eines gravierenden Lebensereignisses als Auslöser noch höher, bei 56-60%, an. Kölkers klinischer Untersuchung ist zu entnehmen, dass sich die gravierenden Lebensereignisse bei anankastischen Kindern thematisch auf Krankheit, Tod, Sexualität und Religion beziehen und Ablösung und Trennung beinhalten. Dies ist ein Hinweis darauf, dass das Auftreten von Zwangssymptomen in einem Zusammenhang mit Entwicklungsprozessen und Identitätsfindung steht.»
- Kritische Anmerkung: Kinder, nicht nur jene, die als anankastisch beschrieben werden, sind grundsätzlich in einer Situation, die einem Ausgeliefertsein entspricht: abhängig von der Beschaffung von Nahrung und Wohnung durch die Eltern, abhängig von ihrer Gunst, die sich in Zuwendung äußern kann, aber auch durch das Auftreten von Suchtverhalten oder schwieriger finanzieller Bedingungen sowie Trennung der Eltern entfallen und ins Gegenteil umschlagen kann. Im ungünstigsten Fall lastet sich ein Kind die Verantwortung für das Scheitern der Eltern an oder versucht, die Eltern zu retten, z. B. die Ehe der Eltern oder einen Elternteil vor dem anderen, wenn etwa häusliche Gewalt im Spiel ist. Hier liegt die Schlussfolgerung Zwangsstörung Ursachen Kindheit besonders nahe. Es sind jedoch keine Zwangsstörungen, für die es Ursachen in der Kindheit gibt, sondern Ersatzordnungen, mit denen man für die Klienten arbeiten kann.
„Zwangsstörung Ursachen Kindheit“ ersetzen durch: „Umsortieren und Neuordnung als Erwachsene nutzen“
Solange Menschen in einem Störungskonzept stecken …
- weil sie z. B. in eine Therapie gehen, in der ihnen mangelnde Einsicht bezüglich ihres sinnlosen Verhaltens vorgehalten wird
- oder weil sie eine Selbstdiagnose gestellt haben – s. hierzu die unhaltbare Dreifragen-Selbstdiagnose nach Rasmussen/Eisen
… wird es schwierig bleiben, sich von der Störungsidee zu lösen und zu einem Ansatz überzugehen, der eine Veränderung möglich macht: ohne Gewalt gegen sich anzuwenden.
So steigen Sie aus Ihrer Kindheit aus
- Manche Menschen verbleiben ihr Leben lang in bestimmten Situationen in einer mentalen und emotionalen Kindheitsdauerschleife.
- Traumatisierende Erfahrungen können sie schlecht bzw. nicht verkraften.
- Es gibt aber viele Menschen, die ausgerechnet aus ihrer schwächsten Stelle eine große Stärke entwickeln. Im übertragenen Sinn: der Junge, dessen Elternhaus abbrannte, und der Feuerwehrmann wurde. Weil er sich mit Feuer auskennt. Weil er die Todesangst erfahren und ausgehalten hat. Weil ihm niemand zu erklären braucht, wie schnell es im Ernstfall gehen muss und wie erleichtert die Menschen sind, die in Decken gehüllt nachts auf der Straße stehen: ihr nacktes Leben unter dem Arm.